Direkt zum Hauptbereich

Löwenzahnkinder




"Die letzten Wochen waren arbeitsreich und intensiv. Manches andere blieb daher liegen. Das zeigte sich auch in unserem Garten. Statt einer schönen grünen Grasfläche bot sich nur eine ungleichmäßige Unkrautfläche, vor allem aber ein gelber Löwenzahnteppich. "Dem muss ich Herr werden", dachte ich, wusste aber nicht wie, denn mit unserem kleinen Gardena-Ritsch-ratsch-Muskelrasenmäher gab es absolut kein Durchkommen mehr. 


Also hatte ich eine Idee. Ich schlug meinen drei Kindern vor, heute doch mal Löwenzahn pflücken zu gehen, doch außer einem gelangweilten "mmmmmm" kam keine Reaktion. "Ich zahle 10 Öre [ca. 1 Cent] für jede Blume!" legte ich nach. Immer noch keine Reaktion, doch abends stellte sich raus, dass das vielleicht doch keine so gute Idee war. Als ich heimkam, fand ich tütenweise Löwenzahn vor der Haustür und eine handgeschriebene Rechnung auf dem Schreibtisch: "Papa, wir haben 5000 Blumen gepflückt. Macht also 500 Kronen. Kannst ja nachzählen."


Das schlimmste war, dass am nächsten Tag schon wieder Hunderte von Blüten nachgewachsen waren, und meine Kinder ihren Spaß hatten: "Bei uns wächst das Taschengeld im Garten!" Was macht man da? Wie kann ich dem Löwenzahn auf billige Art Herr werden?! Kann man tausende von Löwenzahnblumen ausstechen? Da wird man ja blöd! 


Es war mir möglich, einen richtigen Rasenmäher zu organisieren und dachte siegessicher, dass der Löwenzahn nun enweder vor Schreck oder wegen des Messers eingehen wird. Von wegen. Ich mähte hin, ich mähte her. Unbeeindruckt wuchs er weiter. Ich reparierte unseren defekten Trimmer und versuchte alles wegzurasieren. Wieder gab es am folgenden Tag neue Blüten und neue Pusteblumen. Wo kommen die bloß alle her?! Meine letzte Verzweiflungstat war schließlich Unkrautvernichtungsmittel. Fünf Liter, elektrische Pumpe inklusive. Da geht zwar alles ein, was grün ist, aber eben AUCH der Löwenzahn! Allein, für jeden Löwenzahn, dem das Lebenslicht erlosch, wachsen an anderen Stellen fünf kleine neue nach. Tausende von Pusteblumen konnten sich erfolgreich fortpflanzen.


Ich konnte mir nicht helfen, schließlich Respekt vor diesem Gewächs aufzubringen. Diese Pflanze gibt einfach nicht auf. Sie ist nicht kleinzukriegen. Sie hat tiefe Wurzeln und unzählige Überlebensstrategien. Und in Gemeinschaft ist sie noch viele Male stärker. Im Grunde will ich auch ein Löwenzahn sein, mit tiefen Wurzeln, nicht kleinzukriegen. Und ich weiß, dass vielen von Euch auch schon so mancher "Rasenmäher" im Leben begegnet ist, der Euch wegrasieren wollte, bedrohliche Ausstechmesser oder andere Waffen, Gift. Mach es wie der Löwenzahn. Sei hartnäckig. Gib nicht auf. Lass Dich nicht kleinkriegen." (Marcus' gestrige Mittwochsrede zur Frühstückspause bei Reningsborg; die Rede endet mit einem Gebet.) 

Heute morgen bin ich auf dem Weg ins H2O-Center. Ein junger Mann, der bei Reningsborg Arbeitstraining macht, kommt mir entgegen. Er müsse heim, weil er krank sei. Fast zehn Minuten berichtet er von den letzten Tagen. Plötzlich strahlt sein Gesicht: "Aber weißt Du was? Ich habe meinen Führerschein geschafft! Jetzt kann ich einen richtigen Job kriegen!" "Ich habe für dich gebetet!" sage ich und wir feiern seinen Erfolg auf dem Gehweg.

Hundert Meter weiter fegt ein anderer den Randstein. "Wie schön das alles geworden ist, seit Du Dich darum kümmerst!" begrüße ich ihn. "Findest Du? Aber weißt Du was? In zwei Monaten bekomme ich eine Wohnung! Drei Jahre warte ich nun darauf, seit ich aus dem Knast kam!" Und wieder können wir einen Erfolg auf der Straße feiern. Er erzählt mir einiges aus seinem Leben, und es scheint hart gewesen zu sein. "Ich wollte Dir noch was zeigen," sagt er, "hat heut' in der Zeitung gestanden." Aus seinem Tabakbeutel zieht er einen kleinen Zeitungssauschnitt. "Drei von vier Kirchenmitgliedern sind sich ihres Glaubens nicht sicher". Das fänd er nicht gut, meint er. Er hielte zwar auch nichts von der Kirche, aber er sei immer gerne zur Heilsarmee gegangen. Wir sprechen über die Liebe Gottes, die ganz besonders denen gilt, die es schwer haben und am Rande stehen. Sein Besen fällt ihm um. Ich hebe ihn wieder auf, drücke ihm den Stiel in die Hand und gehe weiter.

Ein anderer Mitarbeiter bei Reningsborg spricht mich an. "In Bezug auf das, was Du gestern gesagt hast, wusstest Du, dass es im Schwedischen ein Wort ganz speziell für solche Menschen gibt, die es von klein auf immer schwer hatten und die sich dennoch durchboxen?" "Nein, das Wort kenne ich noch nicht."

"Man nennt sie 'Löwenzahnkinder'."


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Eine neue "Engelskala"?

Ich selbst kam gerade erst ins zweite Schuljahr, als die beiden Herren James Engel und Wilbert Norton ein Buch mit dem Titel " What's gone wrong with the harvest? " (Was ist mit der Ernte schiefgelaufen?) herausgaben. Nein, das Buch handelte nicht von Traktoren, Mähdreschern und Güllefässern, sondern um die Ernte der geistlichen Früchte, die Jesus von Kirche und Gemeinden erwartet. Und hier läuft ja bekanntlich so manches schief. Zur Veranschaulichung entwickelte Herr Engel, einer der Autoren, eine Skala. Auf dieser Skala konnte man leicht erkennen, wo man sich auf seiner geistlichen Reise gerade befindet. Als " Engelskala " - was nur etwas mit dem Namen des Erfinders und nichts mit Engeln zu tun hat - gelangte sie zu weltweiter Bekanntheit. Für alle, die noch nie eine Engelskala gesehen haben - so ungefähr sieht eine deutsche Version aus (von mir farblich etwas aufgepeppt): (zum Vergrößern auf's Bild klicken) Man liest die Skala im Prinzip von unten ...

Kein Funken Kritik

Diese Woche wurde dann der Fernsehbeitrag ausgestrahlt, in dem Seelsorgegespräche von Pfarrern und Pastoren heimlich aufgenommen wurden. Ein Journalist hatte sich als Seelsorgesuchender ausgegeben und um Hilfe für seine homosexuelle Neigung gebeten. (Ich hatte hier darüber geschrieben.) Die Sendung wurde nun hochgelobt und es gab nicht den geringsten Funken Kritik an den angewandten Methoden. Das Medienmagazin Pro berichtet von ähnlichen Fällen in Deutschland, wo Journalisten sich an kompetente Seelsorger wenden und um "Heilung" von ihrer Neigung bitten doch hinterher völlig entrüstet und aufgebracht darüber berichten, dass sie tatsächlich Hilfe bekommen haben. (Ich weiß allerdings nicht, ob hier auch heimliche Aufnahmen gemacht wurden.) Ich halte das heimliche Aufnehmenbewusst vertraulicher Gesprächssituationen wirklich für unfair und journalistisch unbegründet. Doch was will man machen? Die Welt will hören, was sie hören will, das war schon immer so. All die guten Hilf...

Beginn einer wunderbaren Freundschaft

Wohin wird die Reise gehen? Langsam, ganz langsam entwickelte sich die Geschichte, die hier begann . Der Gedanke, Gemeinde für ihre Kollegen zu entwickeln, ließ sie nicht mehr los. Wir trafen uns unregelmäßig über ALT, wo in meinem Kurs alles begonnen hatte. Schnell wurde ihr allerdings klar, dass ALT gewöhnliche Pastoren für gewöhnliche Gemeinden ausbildet, sie aber einen ungewöhnlichen Neustart für ungewöhnliche Menschen anstrebt. Sie fühlte sich wenig vorbereitet und eher eingeengt. Deshalb drückte sie auf Pause legte die Ausbildung bis auf weiteres auf Eis. Obwohl wir uns nicht mehr über ALT sahen, verloren wir nicht den Kontakt. In unregelmäßigen Abständen telefonierten wir, besprachen Ideen. Ich traf einen Teil ihrer Freunde und Kollegen auf einem Philosophieabend in Stockholm. Und während ich mit diversesten Herausforderungen bei Communitas zu kämpfen hatte, wurde für sie immer klarer: Wir müssen eine ganze neue Arbeit starten, die exakt auf das Leben von Künstlern und Mus...