Direkt zum Hauptbereich

Die Leere war eine Lehre

Angeredsbron
 "Bitte lass mich auch die andere Seite sehen!" war mein wiederholtes Gebet beim Anblick der vielen Häuserfassaden während der ausgiebigen Gebetsmärsche im ersten Jahr unseres außergewöhnlichen Dienstes. Es dauerte seine Zeit, doch Gott antwortete. Die Türen, die mir in den Jahren danach in die unterschiedlichsten Wohnstätten geöffnet wurden, führten mich in vielen Fällen in eine Welt der Verzweiflung.

Alkohol- oder Drogenmissbrauch, völlige Einsamkeit, zerbrechende Beziehungen, Oberflächlichkeit, Krankheit, Angst. Mal mehr, mal weniger. Mal überdeutlich, mal subtiler. 

Manche von denen, die ich dort antraf, waren in religiösen Familien groß geworden und haben sich aus diversen Gründen wieder vom Glauben abgewandt. Oder sie kämpften mit ihrer religiösen Vergangenheit. Viele, sehr viele andere hatten aber so etwas wie Glauben, der das Leben prägt, nie erlebt. 

Meine Augen sahen eine Menge Menschen, meine Ohren hörten unzählige Geschichten, mein Herz spürte die Verzweiflung, die längst nicht alle formulieren wollten. Die darin erahnte Summe des Leids in all seinen Formen auf der anderen Seite der Fassaden liegt mir seither auf der Seele. Ich bringe sie vor Gott und will sie bei ihm abgeben. Doch das Erlebte hat mir die unschuldige Naivität geraubt. Nun weiß ich, was in der schönen neuen Welt da draußen wirklich abgeht. 

Das Schlimmste von allem ist jedoch die allgegenwärtige, übermächtige Lüge der Hoffnungslosigkeit. Stellt Euch vor, Ihr kommt an einer Brücke vorbei, wo ein Mensch dabei ist, sich das Leben zu nehmen. Ihr wollt natürlich helfen und haltet an, beginnt ein Gespräch, nehmt euch Zeit. Eine kleine Beziehung beginnt und ihr erfahrt, dass der Grund zum Sprung in die Tiefe ein platter Reifen ist. Ihr seid überrascht, dass eine eurer Meinung nach so kleine Ursache so dramatische Wirkung haben kann.  Alle Erklärungsversuche, dass dieses Problem doch ohne Weiteres gelöst werden kann, gehen in den Wind: euch wird erläutert, dass das ganze Leben doch ein platter Reifen sei, der ohnehin immer wieder platze, schön, dass ihr ja noch so wunderbar optimistisch seid, schön dass euer Glaube euch da hilft, bewahrt euch das mal schön, denn irgendwann werdet auch ihr es bitter nötig haben, doch meinen Reifen, nein, den flickt keiner mehr, zu oft geflickt, selbst neue Reifen halten nicht. Und dann verschwindet jener Mensch vor euren Augen im Nebel. Ihr könnt nichts machen außer hoffen, dass der Sprung ins Wasser ging, überlebt wurde und jener Mensch dann doch noch einen Neuanfang schafft und lernt, die Nagelbretter dieser Welt zu vermeiden. Solche Geschichten habe ich (ein bisschen zu) oft erlebt. Meist war der platte Reifen irgendeine Form der Einsamkeit. Die Luft war raus und man war zutiefst überzeugt, dass dies niemals zu lösen sei. Die Hölle der Einsamkeit ist erträglicher als die Hölle der Gemeinschaft.

Zu viele haben sich entschieden, der Hoffnungslosigkeit ihren ganzen Glauben zu schenken, und oft beruht dieser Glaube auf zu vielen schlechten Erfahrungen. Und wahrscheinlich auch auf einer aktiven geistlichen Lüge, deren Kraft nicht zu unterschätzen ist. All unsere Liebe, unsere Versuche zu helfen bleiben ein Tropfen auf den heißen Stein. 

Ich frage den Herrn, warum Er denn nicht mehr dagegen tue. Schließlich ist es doch Seine Welt und es sind Seine Menschen, die er liebt. Und Er scheint zu antworten, dass Er doch schon alles getan habe. Aus Liebe könne und wolle Er aber niemanden zwingen. Er biete alle Seine Hilfe und Seine ganze Kraft an, doch der Mensch müsse die Hilfe auch wirklich annehmen wollen.

Und außerdem, so erinnert Er mich, habe ich während meiner vielen Gebetsmärsche doch auch immer wieder darum gebeten, die Welt mit Seinen Augen sehen zu dürfen. Und weil ich dieses Gebet wirklich ernst gemeint habe, habe Er mir gezeigt, wie die Welt für Ihn ist. Heute freue Er sich darüber, dass ich Ihm in diesem Prozess etwas ähnlicher geworden sei und gelernt habe, das Herz meines Herrn ein wenig besser zu verstehen.  


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Eine neue "Engelskala"?

Ich selbst kam gerade erst ins zweite Schuljahr, als die beiden Herren James Engel und Wilbert Norton ein Buch mit dem Titel " What's gone wrong with the harvest? " (Was ist mit der Ernte schiefgelaufen?) herausgaben. Nein, das Buch handelte nicht von Traktoren, Mähdreschern und Güllefässern, sondern um die Ernte der geistlichen Früchte, die Jesus von Kirche und Gemeinden erwartet. Und hier läuft ja bekanntlich so manches schief. Zur Veranschaulichung entwickelte Herr Engel, einer der Autoren, eine Skala. Auf dieser Skala konnte man leicht erkennen, wo man sich auf seiner geistlichen Reise gerade befindet. Als " Engelskala " - was nur etwas mit dem Namen des Erfinders und nichts mit Engeln zu tun hat - gelangte sie zu weltweiter Bekanntheit. Für alle, die noch nie eine Engelskala gesehen haben - so ungefähr sieht eine deutsche Version aus (von mir farblich etwas aufgepeppt): (zum Vergrößern auf's Bild klicken) Man liest die Skala im Prinzip von unten

Kein Funken Kritik

Diese Woche wurde dann der Fernsehbeitrag ausgestrahlt, in dem Seelsorgegespräche von Pfarrern und Pastoren heimlich aufgenommen wurden. Ein Journalist hatte sich als Seelsorgesuchender ausgegeben und um Hilfe für seine homosexuelle Neigung gebeten. (Ich hatte hier darüber geschrieben.) Die Sendung wurde nun hochgelobt und es gab nicht den geringsten Funken Kritik an den angewandten Methoden. Das Medienmagazin Pro berichtet von ähnlichen Fällen in Deutschland, wo Journalisten sich an kompetente Seelsorger wenden und um "Heilung" von ihrer Neigung bitten doch hinterher völlig entrüstet und aufgebracht darüber berichten, dass sie tatsächlich Hilfe bekommen haben. (Ich weiß allerdings nicht, ob hier auch heimliche Aufnahmen gemacht wurden.) Ich halte das heimliche Aufnehmenbewusst vertraulicher Gesprächssituationen wirklich für unfair und journalistisch unbegründet. Doch was will man machen? Die Welt will hören, was sie hören will, das war schon immer so. All die guten Hilf

Brückenpfeiler Nr. 1: Verankert in der Bibel

Zum ersten Teil der Serie geht's hier.  Brückenpfeiler Nr. 1: Verankert in der Bibel  Eines der tiefgründigsten und eindeutigsten Gebote Gottes findet sich im fünften Buch Mose: Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore. (5Mos 6,4-9) Diese Worte wurden vor tausenden von Jahren gegeben, doch ihre Botschaft ist immer noch sonnenklar: Tu, was du kannst, um nie von Gottes Geboten abgelenkt zu werden. Simpel, oder? Bei uns im Westen finden wir u