Gedanken zu Ostern von Kurt Kister |
In der Cyrenaika, auf dem Weg von Tobruk nach Bengasi, liegt etwas abseits der Straße ein Friedhof. Mehr als dreieinhalbtausend Angehörige der britischen Armee aus allen Winkeln des ehemaligen Empire sind dort begraben.
Der Knightsbridge Cemetery ist ein trostloser, windiger Ort inmitten einer Geröllwüste, über der oft ein gelblicher Sandschleier das Atmen erschwert. Viele der Männer, die hier im Kampf gegen das deutsche Afrika-Korps und die Italiener gestorben sind, haben kaum gelebt. Die Anzahl der unter Zwanzigjährigen ist, wie auf jedem sogenannten Kriegerfriedhof, groß. Sie sind vor 80 Jahren aufgewachsen in Wales, Indien oder Neuseeland, um dann an einem namenlosen Platz in der libyschen Wüste zu sterben.
Auf etlichen der Grabsteine liest man ein Zitat aus der King-James-Bibel: "Greater love hath no man than this . . ." In Luthers Sprache heißt der Vers aus dem Johannes-Evangelium: Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.
Wohl kaum einer der Toten von Knightsbridge ist in dem Bewusstsein gestorben, dass er sein Leben ließ für andere. Mit solchen Gedanken versuchen sich zumeist die zu trösten, die Grabsteine aufstellen müssen. Verwandte, Freunde, Hinterbliebene suchen so nach einer Begründung für das schreckliche Geschehen, nach einem Sinn des Todes. Allerdings gehört das Argument, jemand habe sich für die anderen, für uns, für die Nation geopfert, auch zum Repertoire jedweden Staates und jedweder Armeeführung - egal, ob es ihr um Menschenrechte oder Unterjochung geht.
Der archaische Begriff "Opfer" verwischt manchmal Schuld und Unschuld, Ursache und Wirkung. Kriegsopfer sind so viele: Angreifer und Verteidiger, Verschleppte und Ausgebombte, ja sogar der 1945 noch gefallene KZ-Kommandant. Es mag sein, dass der Tod alle gleichmacht, zumal an scheinbar gottverlassenen Orten wie dem Knightsbridge-Friedhof. Aber er verändert nicht die Leben, die vorher geführt wurden.
An diesem Freitag gedenken die Christen jenes Opfers, das in der westlichen Hemisphäre seit zwei Jahrtausenden unsere Wahrnehmung vom "Tod für andere" prägt. Jesus, so sagt die Bibel, ist am Kreuz für die Menschen wie ein Mensch gestorben. Man kann daraus viele Schlussfolgerungen ziehen, aber auf jeden Fall diese: Selbst für Gott definiert offenbar der Tod, der gewaltsame zudem, so sehr den Menschen, dass gerade im Tod Gott menschengleich wird.
Das Opfer dessen, der eigentlich unsterblich ist, bedeutet umso mehr, wenn er sich dem Tod unterwirft - und sei es auch im Wissen, dass er ihn durch die Auferstehung, jenes Wunder, an das man nur glauben kann oder nicht, alsbald überwunden haben wird. Wer je am offenen Grab eines geliebten Menschen gestanden hat, wird sich vorstellen können, dass der Glaube an ein Danach die Verzweiflung über das Jetzt wirklich lindern kann. Religion, notabene, ist stets auch ein Mittel gegen Verzweiflung im Jetzt gewesen.
In der Ostergeschichte sind es drei Tage vom Tod bis zu dessen Überwindung, von Golgatha bis zu der Erkenntnis: Er ist nicht hier, er ist auferstanden. Wenn man daran glaubt, macht das Mut. Als Mensch braucht man dringend solchen Mut, denn seit Jesus hat es keinen mehr gegeben, der aus dem Grab wiedergekommen wäre. Wir erleben immer nur Golgatha, die Schädelstätte, oder eben die Gräber von Knightsbridge in einer geradezu allegorisch windumtosten Wüstenei.
Sicher, die Welt ist voller Gräber aus vielen vergessenen Kriegen. Was einst - sei es im alten Athen gegen die Perser oder im revolutionären Frankreich gegen Europas Feudalstaaten - für richtige, gerechte Kriege gehalten wurde, gibt heute bestenfalls noch Stoff für Geschichtsbücher.
Oft leben die Gründe, deretwegen eine Generation glaubte, Opfer erbringen zu müssen (respektive geopfert wurde), nicht viel länger als diese Generation. Und selbst die ewigen Werte - Würde, Freiheit, Selbstbestimmung - werden in immer neue Systeme und subjektive Begründungszusammenhänge gepresst. Das 20. Jahrhundert war auch das Jahrhundert jener Ideologien, zu denen der Kult um Opfer und Opferbereitschaft zählte. Das war nicht nur bei den Nazis so, sondern auch bei den Stalinisten und den Kulturrevolutionären in China oder Kambodscha. Abermillionen sind deswegen gestorben. Denkt man daran, muss es einen eigentlich erst einmal schaudern, wenn man heute das Wort "Opfer" hört.
Da ist es nicht verwunderlich, dass sich gerade unter den Älteren so viele finden, die mit großer Skepsis auf Sätze reagieren wie den, dass Deutschland am Hindukusch verteidigt werden müsse - was leider nicht ohne Opfer abgehe. Die Kriegsgeneration, also jene, die heute älter als 80 sind, hat sich in ihrer Jugend so sehr an der Opfer-Ideologie gebrannt, dass die Narben bis heute schmerzen.
Sie wären die Altersgenossen der Männer von Knightsbridge, die nicht alt werden durften. Man sieht das etwa am 90-jährigen Helmut Schmidt, der nicht viel hält von der afghanischen Verwicklung und es gut begründen kann. Solche Einsicht mag auch daher rühren, dass jene das Leben schärfer sehen, die dem Tod, zum Beispiel wegen ihres Alters, näher sind.
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