Direkt zum Hauptbereich

Zero Commitment

Young 'n brave 'n wild: Ole und Athene
(Fotograf: Svea Nadia Fritsch)


Vor knapp zwei Wochen habe ich meinen Sohn verheiratet. Welch ein Erlebnis. Noch heute bin ich voll auf Endorphin: Sonne, Fest und Stolz auf Sohn und Schwiegertochter. Die zwei sind wunderbar, kommen aus stabilen Familien, die ihren Vorbildern in den kommenden 65 Jahren nacheifern wollen. Allen, die uns weder auf Instagram noch Twitter oder Facebook folgen, werde ich irgendwann ein paar Bildchen auf new-reformation-privat einstellen.

Doch im Rausch der Glückshormone schmecke ich auch einen Wermutstropfen. Der hat nichts damit zu tun, dass nun auch das zweite Kind Vater und Mutter verlassen hat. Die Tatsache, dieses Ziel erreicht zu haben, macht mich nur noch stolzer. Der Wermutstropfen kommt nicht aus der Familie, sondern aus der Gesellschaft, in der wir leben.

Nie habe ich nämlich so viele verstörte Blicke und Kommentare erhalten. ”Was?! Die heiraten?! Ja, wie alt sind die denn?! Was, 21?! SO JUNG?!?!” Und dann dieser Blick, das künstliche Grinsen, als würde bald unser Haus von einem Meteoriten getroffen. Denn in einem sind sich viele Schweden einig: Mit 21 ist man zu jung zum Heiraten. Kinder zeugen, Kinder kriegen – alles kein Problem. Aber heiraten?! Diese Haltung bereitet mir wiederum Stirnrunzeln. Vor allem, wenn solche Kommentare von Christen kommen.

Der gesellschaftskritische, schwedische Psychiarter David Eberhard merkte in seinem 2009 erschienenen Buch ”Ingen tar skit i de lättkränktas land”* zu Recht an, dass die Menschen der meisten Länder ein klares Alter nennen können, ab dem man kulturell als erwachsen gelte. Doch nicht so in Schweden, meint Eberhard, dort höre er immer nur ”Ach, wirklich erwachsen wird man doch eigentlich nie“ und schlussfolgert, dass damit jede Verantwortung, Verantwortung zu übernehmen, kategorisch abgelehnt wird. In der Tat: Aus meiner eigenen Beobachtung ist im Zweifel immer irgendein „Ombudsman“ oder gar gleich die ganze Regierung schuld an sämtlichen Alltagsproblemen – niemals aber ist man selbst verantwortlich. Ganz anders als in Deutschland wird dem staatlichen System Schwedens ein fast Gott-Vater-gleiches Vertrauen entgegengebracht. Eberhard geht mit seinen Landsleuten schonungslos ins Gericht. Ich stimme ihm voll und ganz zu: Null Verantwortung und zero Commitment ist eine zunehmende, postmoderne Gesellschaftskrankheit. In seinem jüngsten Buch „Kinder an der Macht“ meint Eberhard, dass man durch den Kinderkult nicht nur Rotzlöffel, sondern auch eine unmündige Gesellschaft heranzüchte. Kein Wunder also, dass der gemeine Schwede sich im zarten Alter von 21 noch für hoffnungslos überfordert hält, der keiner Ehe je gewachsen sein kann.

Mit dieser Haltung kann ich eigentlich gut leben, schließlich bin ich Missionar. Selten gehe ich davon aus, dass Menschen meine Ansichten teilen. Wirklich überrascht hat mich aber, dass reife, schwedische Christen, Lehrer und Gemeindeleiter ein junges Heiratsalter für – na, ich weiß nicht für was halten, denn sie haben sich ja nie getraut, es mir offen und ehrlich zu sagen. Doch ihre Blicke und Kommentare waren nie positiv überrascht. Hätte ich ihnen erzählt, dass mein Sohn nun „Sambo“ wohnt, das heißt unverheiratet zusammen leben, wäre ihnen das völlig normal vorgekommen. Und damit habe ich so mein Problem. Nicht aus sexualethischen Gründen, ach was, das interessiert mich weniger. Ich habe ein viel größeres Problem damit, dass schwedische Christen in Sache Ehe zaghafte Feiglinge sind, die weder sich selbst noch dem eigenen Nachwuchs etwas Großes zutrauen, geschweige denn dem Nachwuchs zum mutigen Voranschreiten anfeuern. Ich finde das unangenehm peinlich.

Schon lange ermuntere ich, nicht allzu lange mit dem Heiraten zu warten. Auch im 21. Jahrhundert ist man ab dem 21. Lebensjahr im heiratsfähigen Alter. Selbst in Skandinavien. Schweden und Schwedinnen, ich glaube an euer großes, aber kleingeredetes Potential! Mit 21 mag man unerfahren oder ungestüm sein, aber man ist kein Kind mehr! Außerdem ist man extrem lernfähig. Mit zwanzig lernt es sich viel schneller und besser, eine tragfähige Beziehung zu bauen als im frühdementen Heiratsalter von 50. Denn eins ist so sicher wie das Amen in der Kirche: Probleme und Spannungen gibt es in jeder Beziehung, egal, ob du mit 17 oder 70 heiratest.

Ich bin stolz und dankbar, Kinder zu haben, die den Mut besitzen, Vorbilder zu sein und Verantwortung zu übernehmen. Das ist nicht allein unser Verdienst als Eltern. Auch unsere Gemeinde in Ingolstadt, großartige Vorbilder in der Verwandtschaft, die Erfahrungen eines Auslandsumzugs, die Arbeit mit H2O, die Schulen und nicht zuletzt Jesus haben maßgeblich dazu beigetragen. Danke dafür. Und lasst euch gesagt sein: Die Hochzeit der eigenen Kinder ist schöner, wenn man noch auf eigenen Beinen tanzen kann und nicht im Dekubitusbett herumgeschoben wird. Glaubt an Euren Nachwuchs, liebt ihn, feuert ihn an und entlasst ihn zu seiner Zeit in die Selbstständigkeit, fähig zur Verantwortung und Full Commitment.


_____________
* sinngemäß: ”Im Land der Leichtgekränkten lässt sich keiner anschwärzen”. In Deutschland wird Eberhard derzeit mit seinem neuesten Buch ”Kinder an der Macht” bekannt.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Eine neue "Engelskala"?

Ich selbst kam gerade erst ins zweite Schuljahr, als die beiden Herren James Engel und Wilbert Norton ein Buch mit dem Titel " What's gone wrong with the harvest? " (Was ist mit der Ernte schiefgelaufen?) herausgaben. Nein, das Buch handelte nicht von Traktoren, Mähdreschern und Güllefässern, sondern um die Ernte der geistlichen Früchte, die Jesus von Kirche und Gemeinden erwartet. Und hier läuft ja bekanntlich so manches schief. Zur Veranschaulichung entwickelte Herr Engel, einer der Autoren, eine Skala. Auf dieser Skala konnte man leicht erkennen, wo man sich auf seiner geistlichen Reise gerade befindet. Als " Engelskala " - was nur etwas mit dem Namen des Erfinders und nichts mit Engeln zu tun hat - gelangte sie zu weltweiter Bekanntheit. Für alle, die noch nie eine Engelskala gesehen haben - so ungefähr sieht eine deutsche Version aus (von mir farblich etwas aufgepeppt): (zum Vergrößern auf's Bild klicken) Man liest die Skala im Prinzip von unten ...

Kein Funken Kritik

Diese Woche wurde dann der Fernsehbeitrag ausgestrahlt, in dem Seelsorgegespräche von Pfarrern und Pastoren heimlich aufgenommen wurden. Ein Journalist hatte sich als Seelsorgesuchender ausgegeben und um Hilfe für seine homosexuelle Neigung gebeten. (Ich hatte hier darüber geschrieben.) Die Sendung wurde nun hochgelobt und es gab nicht den geringsten Funken Kritik an den angewandten Methoden. Das Medienmagazin Pro berichtet von ähnlichen Fällen in Deutschland, wo Journalisten sich an kompetente Seelsorger wenden und um "Heilung" von ihrer Neigung bitten doch hinterher völlig entrüstet und aufgebracht darüber berichten, dass sie tatsächlich Hilfe bekommen haben. (Ich weiß allerdings nicht, ob hier auch heimliche Aufnahmen gemacht wurden.) Ich halte das heimliche Aufnehmenbewusst vertraulicher Gesprächssituationen wirklich für unfair und journalistisch unbegründet. Doch was will man machen? Die Welt will hören, was sie hören will, das war schon immer so. All die guten Hilf...

Beginn einer wunderbaren Freundschaft

Wohin wird die Reise gehen? Langsam, ganz langsam entwickelte sich die Geschichte, die hier begann . Der Gedanke, Gemeinde für ihre Kollegen zu entwickeln, ließ sie nicht mehr los. Wir trafen uns unregelmäßig über ALT, wo in meinem Kurs alles begonnen hatte. Schnell wurde ihr allerdings klar, dass ALT gewöhnliche Pastoren für gewöhnliche Gemeinden ausbildet, sie aber einen ungewöhnlichen Neustart für ungewöhnliche Menschen anstrebt. Sie fühlte sich wenig vorbereitet und eher eingeengt. Deshalb drückte sie auf Pause legte die Ausbildung bis auf weiteres auf Eis. Obwohl wir uns nicht mehr über ALT sahen, verloren wir nicht den Kontakt. In unregelmäßigen Abständen telefonierten wir, besprachen Ideen. Ich traf einen Teil ihrer Freunde und Kollegen auf einem Philosophieabend in Stockholm. Und während ich mit diversesten Herausforderungen bei Communitas zu kämpfen hatte, wurde für sie immer klarer: Wir müssen eine ganze neue Arbeit starten, die exakt auf das Leben von Künstlern und Mus...