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Zuckergussjesus

Wahrscheinlich würde niemand ernsthaft Jesus als Gartenzwerg im Blumenbeet aufstellen (oder?!). Tatsache ist aber, dass wir ihn schneller zu einem Gnom verkommen lassen, als uns lieb oder bewusst ist.

Postchristliche Zeiten haben ihre Tücken. Aber auch unerwartete Vorzüge. Nimmt der Wasserstand im See ab, kommt ans Licht, was verdeckt war. Wir werden uns blinder Flecken bewusst. Heute möchte ich über einen solchen Fleck schreiben.

Je länger ich mich mit "missionaler Evangelisation" in postchristlichen Zeiten auseinandersetze, desto mehr fällt mir auf, wie sehr wir Evangelikalen Jesus im Laufe der Zeit verniedlicht haben. So sehr, bis vom König der Könige nicht mehr als eine süße Verzierung des Lebens übrig geblieben ist. Diese schrittweise Degradierung des Herrn ist historisch gesehen durchaus nachvollziehbar, und ich mache niemanden einen Vorwurf daraus. Dennoch müssen wir überlegen, wie Jesus den Platz zurückbekommt, der ihm gebührt.

Ich beginne mit der Reformation. Dort korrigierten die Reformatoren zwar nur wenige, dafür aber äußerst zentrale Grundannahmen und Theologien jenes korrupten, machtgeilen Staat-Kirchenapparates ihrer Zeit. Das war über-überfällig, aber nur ein Anfang. Im nächsten Schritt betonten dann die Täufer und Pietisten, dass die Reformation, so wie sie war, absolut nicht ausreichte. Es sei nicht genug, nur "recht" zu glauben. Wenn schon, denn schon Reformation. Deren Botschaft war: Rechtgläubigkeit sei keine Kopfsache, es komme vor allem auf die persönliche Beziehung mit dem Herrn an, auf Gehorsam und Erfahrungen mit dem guten Hirten. Erst aus dieser Einsicht heraus begann die ganze, bis dahin nicht existente evangelische Missionsgeschichte zu erwachsen und Deutschland wurde zum ersten sendenden Land protestantischer Missionare: Alle Menschen auf der ganzen Welt sollten Jesus als ihren Herrn und Erlöser kennenlernen und erfahren können. Übrigens stehen prinzipiell die meisten, wenn nicht sogar alle Freikirchen in genau dieser Tradition. 

Geschichte war, wie sie war, und viel von alledem entwickelte sich zeitgleich zur Aufklärung weiter, wo die Wurzeln unserer heutigen Säkularisierung und Individualisierung liegen. Es war also nur allzu natürlich, dass Christen ganz zeitgemäß eine Theologie des wahren, echten Glaubens des Einzelnen betonten. 

Was damals also eine weitere, wichtige Lektion für die Gemeinde war - die persönliche Beziehung zu Jesus -, ist aber wieder nur ein Teil eines größeren Ganzen. Natürlich ist die individuelle Reaktion jedes Einzelnen auf den individuellen Ruf in die Nachfolge unerlässlich. Doch wir dürfen nicht dem Irrtum verfallen, dies sei das Wichtigste oder sogar alles: MEIN Jesus, MEIN Retter, der MEINE Seele in den Himmel bringt. Doch genau dorthin sind wir gekommen. Glaube wurde pure Privatsache. Viele Evangelisationen wurden Marketingveranstaltungen einer persönlichen, spirituellen Lebensversicherung. "Hallo, Herr Kaiser!"* statt König der Könige.  

Was müssen wir uns also heutzutage zu Herzen nehmen?

Wenn wir zurück ins Neue Testament (NT) gehen, dann werden wir unumwunden zugeben müssen, dass das NT hauptsächlich jüdisch geprägt ist. Paulus war jüdischer Gelehrter. Jesus selbst war Jude und stand mit jeder Faser seines Seins in jüdischer Tradition. Kein Jude wäre auch nur annähernd je auf die Idee gekommen, im Messias einen himmlischen Privatfluchtweg aus einer nervigen Welt zu sehen; einen Retter, der mich in Watte packt, wenn mich das Leben zu rau behandelt; der mir Hoffnung auf ein entrücktes Schlaraffenland irgendwo im Jenseits der Ewigkeit macht. 

Der Messias wurde als rechtmäßiger König und Herrscher und damit politischer Befreier eines besetzten Landes gesehen. Jene Juden zur Zeit Jesu (die in heutigen Predigten manchmal so dargestellt werden, als hätten sie in Sachen Messias gar nichts gerafft), lagen gar nicht so total daneben, mit dem Messias den Befreier ihres eigenen Landes von den römischen Besatzern zu erwarten. Sie lagen allerdings mit ihrem Glauben daneben, dass sich diese Befreiung nur auf die Römer und ausschließlich auf ihr eigenes kleines Land Israel beziehe. In Wahrheit hatte Gott mit dem Messias viel, viel größere Pläne: Nicht nur ganz Israel, sondern die ganze Welt sollte nicht nur von den Römern, sondern allen denkbaren Besatzungsmächten befreit werden. 

Deshalb lautet das Urevangelium des NTs: Jesus ist Herr und nicht der Kaiser. Das ist nicht nur der individuelle Ruf an jeden Einzelnen, dem wahren Herrn zu folgen und nicht den falschen, es ist gleichzeitig eine unerwartet unverschämte Verhöhnung aller weltlichen Macht ungeachtet all ihrer noch so imposanten militärischen oder wirtschaftlichen Stärke. Damit wird das Evangelium - man höre und staune! - zu einer global-politischen Kampfansage: Wir kümmern uns wenig um Kaiser, Kanzler, Präsidenten, denn wir haben nur EINEN Herrn und nur IHN allein. Weite Teile der Sprach- und Wortwahl des NTs ist eine einzige heiter-ernste Verspottung weltlicher Macht. Das römische Reich in all seinem Stolz und Glanz wird als lächerliche Karikatur des wahren Herrschers dargestellt: Jesus ist Herr und nicht diese Kaiserwitzfigur. Selbst das Wort "Evangelium" ist eine spöttische Stichelei: Bis dato hatte "Evangelium" nur eine einzige Bedeutung, nämlich wenn dem römischen Kaiser ein Thronfolger geboren wurde, der selbstbewusst "Sohn Gottes" genannt wurde, dann war das "Evangelium", eine Botschaft, die im römischen Reich "evangelisiert", verkündigt werden musste. Die Bibel kümmert sich einen feuchten Kehricht um den Stolz des Römerreiches und kapert dieses Wort für eigene Zwecke: Hier seht ihr den wahren Gott, dem ein Thronfolger geboren wurde. Wahres Evangelium. 

Natürlich folgen wir der Obrigkeit und geben dem Kaiser, wovon der Kaiser behaupten mag, es sei Seins - aber wir tun es nur so lange die Obrigkeit sagt und tut, was der wahre Herr will. In erster Linie geben wir Gott, was Gottes ist - nämlich uns selbst mit allem, was wir sind und haben, weil Er Sein Bild auf uns geprägt hat (im Vergleich zu den lächerlichen Münzen des Kaisers). Damit haben und nehmen wir uns die Freiheit, Bibeln zu schmuggeln, Juden zu verstecken oder geheime Treffen zu organisieren, und wir kümmern uns darin wenig um die Ansichten und Gesetze Roms.
Denn wir sind die gelebte Revolution: Eine Revolution der Liebe und der Gewaltlosigkeit, genau wie unser Herr es uns am Kreuz vormachte, in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt, eine Vorschau der kommenden Befreiung, wenn der wahre Herr wieder auftauchen und es gar aus sein wird mit allen Möchtegernherrschern von Nero über Ivan den Schrecklichen und Hitler bis hin zu Kim Jong Un und all ihren noch ausstehenden, zukünftigen Nachahmern, welche irgendwann im Antichristen ihr abschließendes Vorbild finden werden. 

Das war es, wofür die Gemeinden des NTs lebten: für einen bald zurückkehrenden Messias, der die endgültige Befreiung und Wiederherstellung der Welt herbeiführt, indem er selbst als guter Hirte das Zepter der Weltherrschaft für alle sichtbar ergreifen und damit alle weltliche Politik mit einem Wölkchen verpuffen lassen wird. Für sie war Glaube keine Privatsache, sondern der bald zu erwartende Totalreset einer total korrupten Welt. Und wie uns offenbart wurde, wird es nicht nur eine politische Befreiung geben, sondern einen radikalen Neuanfang wie er extremer nicht sein könnte: mit einem brandneuen Universum.


Meines Erachtens ist zu vielen westlichen Christen der Gegenwart eben dieser revolutionäre Charakter des Neuen Testaments völlig verloren gegangen. Erst hat die Kirche uns für Jahrhunderte weisgemacht, Kaiser und Jesus seien beide Herr und könnten doch sehr wohl gemeinsame Sache treiben (welch ein Verrat am Evanglium!). Und dann haben wir Evangelikalen uns auch noch im Schmuseevangelium eingekuschelt. Oberflächlich betrachtet mag das ja ganz nett erscheinen und seriös-religiös aussehen. Doch brave Mitglieder staatlich subventionierter Kirchen und Gemeinden verlieren so ziemlich alles, was die ersten Christen gekennzeichnet hatte: Mut und Courage, Vision und Leidensfähigkeit. 

Und wie können Zuckergussjesusnachfolger mehr sein als ihr süßer Meister?! Sie sind selbst nur aus Zucker. Sobald es regnet, zerfließen sie. Zergehende Zuckerjünger gibt es im Moment mehr, als uns lieb ist. Außerdem lockt in Wohlstandszeiten ein weichgespültes Wohlstandsevangelium keinen Hund mehr hinterm Ofen hervor. Wenn wir im Westen wirklich neu missionieren wollen, müssen wir ein besseres Evangelium präsentieren als "Ich und Mein Jesus". Wir brauchen eine größere Vision als die Vermehrung der Mitgliedszahlen. Wir müssen das Bild einer Zukunft malen, für das es wert ist zu leben und zu sterben. Wir müssen die Antworten leben, die die Welt nicht hat. Wir und niemand anderes sind die Vorschau der Ereignisse und einer neuen Welt, die niemand verpassen will, die aber leicht zu verpassen ist. Und wir dürfen der alten Welt mutig mitteilen, dass wir Wirtschafts- oder Militärstärke, G-X, EU und wen oder was auch immer für nicht mehr halten als aus Zahnstochern zusammengeleimte Krücken. Jesus ist hier der wahre Herr und sonst gar keiner. 

Gewiss, viele mögen sich bei so viel Naivität an die Stirn klatschen, uns belächeln und uns für noch viel dümmer halten, als sie es eh schon taten. Bitte sehr. Wer Jesus nicht als wiederkommenden, extrem mächtigen aber extrem guten und wahren König über den gesamten Globus anerkennen kann, der wird ihn nimmer als wahren Herrn über das private Leben annehmen. Da braucht es weder Gästegottesdienste noch Schmuseevangelium; solche Mühen und Ressourcen können wir uns getrost sparen. Wer hingegen beschließt, Jesus als Herrn der Himmlischen Heerscharen die Treue zu schwören, der wird ihm auch im Kleinen ergeben sein. 




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* "Hallo, Herr Kaiser!" war für über 30 Jahre Werbeslogan einer deutschen Versicherungsgesellschaft. Herr Kaiser verkörperte den freundlichen Versicherungsvertreter, der sich um alle Ängste und Fragen seiner Kunden kümmerte. Die Idee von Kirche als Versicherungsagentur ist übrigens nicht neu: Schon 1830 kritisierte Ludwig Feuerbach in seinem Werk Gedanken über Tod und Unsterblichkeit die Kirche als lügende Versicherungsgesellschaft für die Ewigkeit. 

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